Traditionelle Medizin: Osten trifft Westen

Massagetechniken können Energieblockaden lösen. Asiatische Methoden arbeiten mit Meridianbahnen. Foto:www.istockphoto.com
Massagetechniken können Energieblockaden lösen. Asiatische Methoden arbeiten mit Meridianbahnen. Foto:www.istockphoto.com

Immer öfter stützen sich heimische Ärzte und Therapeuten auf Gemeinsamkeiten traditioneller europäischer und asiatischer Medizin und kombinieren TEM und TCM. Denn die althergebrachten Heilmethoden ergänzen und überschneiden sich in vielen Bereichen. Ein Streifzug durch die Welten von Paracelsus, TCM und der tibetischen Medizin.

Von Bettina Benesch

Lasst eure Lebensmittel Heilmittel und eure Heilmittel Lebensmittel sein“, forderte im 16. Jahrhundert Theophrast von Hohenheim. Der unter dem Namen Paracelsus bekannte Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph hat diese Weisheit allerdings nicht selbst erfunden, sondern einen anderen europäischen Arzt zitiert – den Griechen Hippokrates, der etwa 2000 Jahre vor ihm gelebt hat. Und der wiederum war nicht der einzige, der einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Ernährung hergestellt hat. Ein Chinesisches Sprichwort sagt etwa: „Eine Krankheit kann viele Väter haben, aber die Mutter ist immer die (falsche) Ernährung.“

            Europa und Asien sind längst nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf den ersten Blick scheint – zumindest nicht, wenn es um die traditionellen Formen der Medizin hier und dort geht. Die nämlich ähneln sich in wesentlichen Teilen: Die traditionell asiatische Medizin (TAM) sieht wie die traditionell europäische (TEM) den Menschen als ganzheitliches Wesen und bezieht sein Umfeld in Diagnose und Therapie mit ein; dazu gehören die Familie, das Klima, die Jahreszeiten. Wie die TEM verwenden die chinesische Medizin und die in Indien entstandene Ayurveda Naturheilmittel und sind stufenweise aufgebaut: Sie setzen erst auf Verhaltensänderung, dann auf bewusste Ernährung, die die Beschwerden beeinflussen soll; danach sind therapeutische Maßnahmen angezeigt, wie etwa der Einsatz von Kräutern, Massagen, Akupunktur oder Akupressur.

            Immer öfter sützten sich heimische Ärzte und Therapeuten auf die Gemeinsamkeiten der Systeme. Was daraus entstanden ist, ist eine kluge Mischung aus westlicher und östlicher Medizin, die unter anderem davon ausgeht, dass Heilmittel aus der Umgebung eines Patienten seine Gesundheit am besten fördern. Die TEM beruft sich unter anderem auf Paracelsus, der sinngemäß sagte, dass Heilkräuter in der Nähe des Hauses wachsen sollen.

            Um Heilkräuter geht es vorrangig, wenn man sich auf die Suche macht nach Menschen, die traditionell chinesische Medizin mit der traditionell europäischen verbinden: Es geht um den therapeutischen Zweig „Westliche Kräuter nach traditionell chinesischer Medizin“.

 

Brückenbauer kombinieren Methoden

Seit Jahren gibt es Bestrebungen die TCM näher an die Tradition Europas heranzurücken. Florian Ploberger ist einer, der sich seit rund zehn Jahren mit diesem Thema beschäftigt. Der Arzt ist Präsident der Österreichischen Ausbildungsgesellschaft für Traditionelle Chinesische Medizin und Mitarbeiter am Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde der Universität Wien. Seit rund zehn Jahren analysiert und verwendet er westliche Kräuter nach den Methoden der TCM. Und er ist einer der Autoren Österreichs, der Bücher auf diesem Gebiet verfasst hat. Ein Vordenker in Sachen westliche Kräuter in Kombination mit TCM wiederum ist seit über 20 Jahren der Brite Jeremy Ross. Seine Lehrbücher sind mittlerweile Basis für Therapeuten und Ärzte, die speziell auf diesem Gebiet von ihm und von der Wiener Schule für TCM ausgebildet werden. So setzt auch Katharina Krassnig, niedergelassene Allgemeinmedizinerin in ihren Praxen in Baden und Graz auf chinesische Diagnose und europäische Kräuter.

            Nehmen wir an, einer von Katharina Krassnigs Patienten kommt mit Erkältung in die Praxis. Die Ärztin wird ihn daraufhin nach westlicher und nach chinesischer Methodik untersuchen und befragen. Nach der Puls- und Zungendiagnose werden alle Symptome und Zeichen geordnet und ein oder mehrere Störungsmuster (Syndrome) bestimmt. Je nach Störungsmuster wird dann das Therapieprinzip festgelegt und die passende Kräuterrezeptur erstellt.

            „Ich könnte diese Art Kräutermedizin nicht ohne genaue Diagnostik machen“, sagt Krassnig: „Wir unterscheiden vier grundlegende Qi-Ungleichgewichte: Mangel, Überfluss, Stagnation und Störung. Wenn ein Patient sich abgeschlagen fühlt und müde ist, sieht das auf den ersten Blick aus wie eine Qi-Schwäche, ein Mangel. Wenn ich dann den Puls des Patienten taste und merke, er ist saitenförmig gespannt ist dies ein typisches Stagnationszeichen. Dann erst weiß ich, ich darf nicht zu viel tonisieren, also stärken, sondern muss vor allem das Qi bewegen und harmonisieren. Würde ich nur tonisieren, dann würde der Patient noch müder werden, weil ihm die Dynamik fehlt. In diesem Fall gebe ich zuerst Kräuter, die die Energie bewegen, damit die Stagnation nachlässt.“

            Bewegt wird die Lebensenergie Qi in Krassnigs Ordination hauptsächlich mit europäischen Kräutern. Im Fall einer fieberhaften Erkältung habe sich zum Beispiel die Schafgarbe bewährt, sagt die Ärztin: „Schafgarbe, öffnet die Oberfläche, hilft also dem Körper, das Pathogen auszutreiben. Schafgarbe wird auch in der westlichen Medizin traditionellerweise als Schwitzkraut – in der Fachsprache: Diaphoretikum – gegeben.“ Krassnig kombiniert das Kraut je nach Störungsmuster mit unterschiedlichen anderen Kräutern – ein Pauschalrezept gegen Erkältung gebe es nicht: „Es kommt immer auf die individuelle Situation des Patienten und die genaue Diagnostik an“, sagt sie.

            Europäische Kräuter spielen auch eine Rolle im Wiener Zentrum „Saint Charles Statisfaction“, dessen Betreiber sich unter anderem der chinesischen Heilmassage, der Tuina, verschrieben haben. Hierher kommen Menschen, deren Rücken schmerzt, die an Burnout leiden oder an Migräne. Tuina ist eine von mehreren Methoden der TCM, Energieblockaden im körpereigenen Meridiansystem zu lösen. Die Meridiane sind in der chinesischen Lehre Kanäle, in denen die Lebensenergie Qi fließt. Krankheiten oder Beschwerden entstehen laut TCM dadurch, dass die Lebensenergie in den Meridianen nicht frei fließen kann.

            Kräuter können die Wirkung der Tuina-Techniken unterstützen. Nehmen wir das Beispiel Migräne: Laut TCM spielen dabei angestaute Aggression und Wut eine Rolle. Durch das Bearbeiten mehrerer Punkte an Nacken oder Wirbelsäule versucht der Therapeut, die Energieblockaden zu lösen. Ergänzend kann er Kräuter wie Mariendistel, Brennnessel oder Pfefferminze empfehlen.

            Die in Wien arbeitende Ärztin Sathya Alessandra Bernhard bin Saîf hat mit ihrem Mann wiederum ein Buch über das gemeinsam entwickelte Konzept des Archetypen-Meridian-Systems herausgegeben. Die tibetische Medizinerin, Psychologin und Philosophin und der langjährige Trainer aus dem Seminar- und Wirtschaftsbereich haben ihr Wissen aus Ost und West verbunden und dabei im fernöstlichen Wissen der zwölf Hauptmeridiane und dem westlichen Wissen rund um die zwölf inneren Archetypen Übereinstimmungen entdeckt, die eine Anwendung in der Praxis für alle einfacher und praktikabler gestaltet, die sich mit Meridianen, Menschen und Typologien auseinandersetzen. Das Wissen über die Archetypen erleichtere die Diagnostik und Einschätzung von energetischen oder somatischen Störungen im Bereich der Meridiane, sagt Bernhard bin Saîf.

            Das traditionsreiche Kurhaus Marienkron im Burgenland wiederum kombiniert klösterliche Tradition westlicher Heilmethoden längst mit asiatischen Praktiken. Das von Ordensschwestern der Zisterzienserinnen geführte Haus bietet für Körper, Geist und Seele einen besonderen Ort der Ruhe, Erholung und Entspannung. Mit ganzheitlichen Angeboten verbinden die Schwestern Kurhaus und Kloster. Im Kursprogramm finden sich dabei nicht nur klösterliche Meditationen, Kräuterseminare und Heilfasten sondern auch Yoga, Qigong, Zen-Seminare. Schwester Bernarda Wotypka etwa ist eine erfahrene, fundierte Qigonglehrerin und bietet regelmässig Qigong im Haus an. Da kann es schon vorkommen, dass im Kursprogramm auch Themen wie „Bibel und Qigong“ auftauchen und längst keinen Widerspruch, sondern eine ideale Ergänzung darstellen, um die eigene Lebensenergie zu stärken.

            Um den freien Fluss von Energie geht es auch Axel Dinse bei seiner Arbeit. Der Ernährungswissenschafter weiß um die positive Wirkung der richtigen Ernährung, hält dabei jedoch nichts von 0815-Empfehlungen, wie man sie im Zusammenhang mit chinesischer Ernährungslehre immer wieder hört: nur mehr Gekochtes statt Rohkost, nur mehr Hirsebrei statt Butterbrot, nie wieder Milch. „Das ist zu pauschal“, sagt Dinse. Schluss machen mit dem Einheitsbrei will er mit Hilfe des Buches „Ganzheitliche Ernährungslehre - Verbindung traditionellen Wissens mit moderner Wissenschaft“, an dem er derzeit gemeinsam mit dem Allgemeinmediziner Leopold Spindelberger arbeitet. „Wir haben versucht, einen gemeinsamen Nenner zu finden aus allen traditionellen Ernährungslehren“, erklärt Dinse. Was die europäische und die chinesische Ernährungslehre angehe, so seien sich beide sehr ähnlich, sagt Dinse: Demnach entsprechen die Hippokrates’sche Konstitutionstypen dem chinesischen Prinzip von Yin und Yang: Was bei Hippokrates beispielsweise der Melancholiker, sei in der TCM der Mensch mit Yang-Mangel, der Sanguiniker habe dagegen Yang-Fülle, der Choleriker Yin-Mangel und er Phlegmatiker Yin- Fülle. In der Ernährungsberatung gehe es darum, jedem Konstitutionstyp quasi die richtigen Mahlzeiten vorzusetzen. „Bei übergewichtigen Menschen ist beispielsweise der Phlegmatiker-Typ im Vordergrund“, erklärt Dinse. In diesem Fall sei es hilfreich, weniger Milchprodukte und weniger Weißbrot zu essen. Wenig sinnvoll sei es jedoch, sich allein an chinesischen Empfehlungen zu orientieren, die asiatische Mittel bevorzugen: Dinse setzt auf die europäische Tradition, in der Milchprodukte in Maßen nun einmal eine Rolle spielten, in der einst nicht täglich Reis auf den Teller kam, sondern Dinkel oder Hafer.

            Ein anderer Spezialist in Sachen Ernährung und Brückenbauer zwischen Ost und West ist der aus China kommende und seit 20 Jahren in Österreich lebende Simon Xie Hong. Der gelernte TCM-Arzt und Lokalbesitzer in Wien kombiniert asiatische Küche mit klassichen, heimischen Rezepten. „Wels im Wok“ oder Eierschwammerl finden sich auf seiner Speisekarte genauso wie „Herbstgemüse mit Hirsch-Ravioli im Wok“ und diese haben ihm nicht nur Auszeichnungen sondern ab November auch einen Auftritt in der ORF-Kochsendung „Silent cooking“ eingebracht. „Meine Idee ist eine moderne China-Küche kombiniert mit Wiener Seele und Lokalkultur.“, sagt Xie Hong. „Wir kombinieren moderne chinesische Küche mit frischen österreichischen Produkten. Thunfischtartar trifft auf Kürbiskernöl. Wolfsbarsch auf Sauerkraut.“

            Frei nach Alex Dinse lassen sich die Grenzen zwischen traditionell chinesischer und traditionell europäischer Medizin gar nicht mehr so genau ziehen wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Damals war von traditionell europäischer Medizin kaum die Rede, heute kommen Ost und West ohne einander kaum mehr aus. Dieser Meinung ist jedenfalls der Mediziner Florian Ploberger. Für ihn ist die Kombination von TCM und TEM ein Work in Progress; stehen zu bleiben täte der einen wie der anderen Kultur nicht gut: „Alle traditionellen Systeme begeben sich in die Gefahr, auszusterben, wenn sie anderen Systemen gegenüber nicht offen sind. Wenn sich die Kulturen im Lauf der Zeit ändern, ändern sich auch die Menschen und ihre Bedürfnisse. Deswegen ist es sicher für die europäische Medizin heilsam, für das TCM-Wissen offen zu sein – genauso wie es für die TCM heilsam sein kann, für europäisches Wissen offen zu sein, um längerfristig existieren zu können.“

 

Unser Dank gilt nicht nur den erwähnten Interviewpartnern, sondern auch jenen Menschen, die in diesem Beitrag nicht namentlich erwähnt werden, uns während der Recherchen dennoch zur Seite gestanden sind: Alexander Ehrmann, Chef der Saint Charles Apotheke in Wien, Andrea Dungl-Zauner, Leiterin des Zentrums für Chinesische Medizin und Komplementärmedizin an der Donau Uni Krems und Helmut Olesko, Geschäftsführer der TEM-Akademie in Ternberg.

 

 

Die Autorin: Bettina Benesch ist freie Journalistin und Texterin in Wien. Seit 2001 befasst mit den Themenkreisen Medizin, Gesundheitspolitik und Gesellschaft; arbeitet derzeit u.a. für Medizin populär, Healtheconomy und Selbsthilfekonkret.

 

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