Ritualisierte Gesundheitsförderung

 

Perchtenlauf, Osterfeuer, Sonnwendfeier, Rmadan, Chanukka, Weihnachten: Rituale bestimmen das gesellschaftlicher Leben, prägen die verschiedenen Kulturen und leiten den Tagesablauf in geordnete Bahnen - das beginnt und endet mit dem morgendlichen und abendlichen Zähneputzen. Rituale sind aber mehr als nur tradierte Handlungsanweisungen für Zeremonien: Sie stärken eine Gemeinschaft, fürdern das Selbstvertrauen und stellen präventive, gesundheitsfördernde Handlungen dar.

 

Von Andreas Feiertag

 

Ohne Gutenacht-Geschichte läuft es einfach nicht. Dabei ist es völlig egal, ob Mama oder Papa vorlesen. Nur wehe, sie tun es einmal nicht, weil keine Zeit mehr dazu ist oder andere Gründe dagegen sprechen. Nicht nur, dass sich Alina dann schwer tut mit dem Einschlafen - der nächste Tag ist zum Vergessen. Das Mädchen ist launisch, in der Schule unkonzentriert. „Das gehört halt so“, erklärt es beiläufig. „Genauso wie man zu Weihnachten gemeinsam den Christbaum schmückt, bei der Bescherung zusammen Lieder singt, dann jemand eine Weihnachtsgeschichte vorliest und man zum Schluss die Geschenke auspackt. Sonst ist das nicht Weihnachten.“ Die Zehnjährige ist damit nicht allein.

 

Rituale seien auch heute noch wichtig für Gesundheit und Wohlbefinden der modernen Familien, lautet die Quintessenz einer Studienanalyse eines US-Forscherteam rund um die Psychologin Barbara Fiese von der Syracuse University: Die Wissenschafter sehen in Ritualen wichtige und machtvolle „Organisatoren“ des Familienlebens, die Stabilität garantieren. Rituale seien heute noch in allen Kulturen sehr lebendig und würden etwa verbunden mit gesunden Kindern, glücklichen Ehepaaren, starken familiären Bindungen und einem Bewusstsein für die eigene Identität bei Jugendlichen. „Rituale sind eine Art symbolische Kommunikation“, bringt es Fiese auf den Punkt:  Sie transportierten ein Gemeinschaftsgefühl wie „das sind wir“ für eine bestimmte Gruppe und böten über Generationen hinweg Kontinuität.

 

Zudem, so die Studienergebnisse, gebe es bei Ritualen häufig eine emotionale Prägung, wenn die Handlung an sich schon abgeschlossen sei: Viele Menschen würden das Erlebte in der Erinnerung erneut durchleben, um positive Erfahrungen zu wiederholen. Untersuchungen zeigten, dass zumindest während der ersten sechs Lebensjahre Kinder gesünder sind und ein positiveres Verhalten zeigen, wenn es vorhersehbare Routinen im Alltag der Familie gibt. Kinder mit regelmäßigen Ritualen des Zubettgehens schliefen schneller ein und wachten nachts weniger oft auf. Ganz allgemein, schlussfolgern die US-Forscher, „helfen die familiären Rituale gegen Infektionen der Atemwege bei Kleinkindern und verbessern insgesamt die Gesundheit der Kinder“. Also weiterhin Vorlesen.

 

Instinktiv von Menschen gesucht

Zwar sind Kinder, die erst lernen müssen, sich in der von Erwachsenen ausgeprägten Welt zurecht zu finden, besonders empfänglich für Rituale, die Struktur und Ornung ins Leben bringen. Doch können sich auch Erwachsene den rituellen Handlungen nicht entziehen. „Man kann fast schon sagen, dass dies instinktiv von Menschen gesucht wird“, erklärt Franz Redl, der in der „Shambala Wilderness Schule“ in Niederösterreich unter anderem Rituale und traditionelles Wissen aus verschiedenen Kulturkreisen unterrichtet. „Ausgangspunkt für alle Rituale ist der Einklang mit der Natur, mit dem Leben“, ergänzt lebensweise-Fachbeirat Redl: „Fast alle Rituale sensibilisieren für die natürlichen Prozesse. Daher orientieren sich die meisten Rituale, auch jene der Religionsgemeinschaften, am Jahreskreis, an den Jahreszeiten.“

 

In vorkeltischer und keltischer Epoche, als das Überleben der ackerbauenden Menschen von der Ernte abhing, hatten sich ganz bestimmte Rituale zu ganz bestimmten Zeiten herausgebildet. Schließlich sei es nicht egal gewesen, wann man seine Saat ausbringt. Insbesondere an den Mondzyklen habe sich die Menschheit damals orientiert. Und an den Sonnenläufen. Was heute Chanukka oder Weihnachten ist, sei damals als Wintersonnwende in einem Lichtfest gefeiert worden: Der Übergang von der dunklen zur hellen Jahreszeit, die Tage wurden wierder heller, der Zyklus des Wachsens fing wieder an. Auch Pessach und Ostern gingen aus einem Vollmondfest hervor: Mit dem ersten Frühjahrsvollmondbegann die warme Jahreszeit, die harte Arbeit auf den Feldern, die das Überleben sichern sollte. „Die großen monotheistischen Religionen“, konstatiert Redl, „haben ihre Hauptfeste einfach auf bereits vorhandene rituelle Festtage gelegt, um es den Leuten einfacher zu machen, sich dem neuen Glauben anzuschließen.“ Auch die alten, die so genannten heidnischen rituellen Handlungen und Symboliken seien dabei teils übernommen worden, wenngleich verwaschen und nicht mehr so eindeutig erkennbar. „Doch geht es immer um die Balance mit der Umwelt“, erklärt Redl, „früher kam auch noch der Fruchtbarkeitszyklus der Frau hinzu, deshalb orientierte man sich auch vornehmlich an den 28-tägigen Mondphasen, und alles, was darüber hinaus nicht bekannt aber dennoch spürbar war, hat man eben diversen Göttern zugeschrieben, denen man geopfert hat.“

 

Grenzgänger zwischen Lebensabschnitten

Neben den Ritualen, die sich am Jahreskreis orientieren wie beispielsweise Perchtenläufe, Fasching, Ostern, Erntedank und Weihnachten gewinnen auch so genannte Übergangsrituale, die die Grenze zweier Lebensabschnitte markieren, zunehmend an Bedeutung: Erstkommunion, Firmung, Maturafeiern, Hochzeit und sogar Scheidungsfeste. „Solche Rituale für Übergänge sind immens wichtig – und zwar nicht nur kollektiv für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, sondern auch für die Psyche des Einzelnen“, verdeutlichte die Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler von der Freien Universität Berlin unlängst bei einem Kolloquium zum Thema Rituale von Kulturwissenschaftlern und Neurobiologen in Berlin. Wichtig dabei seien etwa das gemeinsame Handeln, der gemeinsame Fokus und der enge Kontakt zueinander. Solche Momente erlaubten es dem Einzelnen, aus dem alten Alltag herauszutreten, eine Weile Narrenfreiheit zu genießen, und sich dann in neuem Status wieder einzugliedern. Erfrischt und gestärkt.  Um seine ganze Kraft zu entfalten, brauche das Ritual aber die körperliche Gegenwart. „Über das Internet beispielsweise werden wir uns nie so spiegeln können und so empathiefähig sein“, sagte Röttger-Rössler.

 

Aber auch viele kleine, kaum als soche wahrgenommene Rituale signalisieren Übergänge: Die Tasse Kaffee bevor die Arbeit beginnt. Das Lesen bevor der Tag zu Ende geht. Ohne Rituale geht es nicht. Sie sind ein Skript, das jeder Mensch hat. Problematisch werden Rituale allerdings, wenn sie unter allen Umständen eingehalten werden, egal was rundherum passiert. Rituale können nämlich auch zwanghaft werden. Dann wird der Mensch von ihnen abhängig und befindet sich innerlich in einer Zwangsjacke. Das kann im schlimmsten Fall sogar zu einer Zwangsneurose mit Panikattacken führen.

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