Körperstimme

„Kinesiologie beruht auf der Tatsache, dass die Stimme des Körpers niemals lügt. Der Körper drückt äußerlich aus, was innerlich vor sich geht.“ So beschrieb Sheldon Deal, Mitbegründer der Kinesiologie, seine favorisierte Behandlungsmethode. Was aber geht vor, wie drückt es sich aus? 

Von Ulli Moschen

Kinesiologie, eine der alternativmedizinischen Methoden, die in Österreich unter die Gewerbeordnung der Energetiker fällt, leitet ihren Namen von den beiden griechischen Worten „logos“ (Lehre) und „kinesis“ (Bewegung) ab und versteht sich als eine Methode, die den Körper, aber auch Emotionen und den Geist in Bewegung bringt. Die verschiedenen alternativen Heilmethoden gehen ganz unterschiedliche Anamnese- und Behandlungswege: Beim Reiki wird Lebensenergie über die Hände übertragen. In der Craniosacralen Therapie arbeitet die Therapeutin oder der Therapeut mit dem Flüssigkeitssystem des Körpers. Bei der Homöopathie werden die Selbstheilungskräfte mit dem Prinzip der Ähnlichkeit angeregt, um nur einige Beispiele zu nennen. Bei Letzterer wie auch bei vielen anderen Methoden, wie etwa der Chinesischen Medizin, entscheidet der Behandler nach einer ausführlichen Anamnese, welches Mittel oder welche Kräuter für eine Behandlung geeignet sind.

 

Die Kinesiologie geht einen anderen Weg. Sie geht davon aus, dass sich sämtliche Ursachen, die den Geist, die Psyche oder den Körper blockieren über den Körper aufdecken lassen, ebenso wie die Methode, welche am geeignetsten ist, die Selbstheilungskräfte anzuregen und die Balance wieder herzustellen. Als Werkzeug zur Auffindung von Störungsursachen dient ein so genannter Muskeltest. Die Kinesiologie geht davon aus, dass die Muskelspannung als Biofeedback-System über ein Ungleichgewicht im emotionalen, chemischen oder energetischen Bereich Auskunft gibt. Bei einer Dysbalance reagiert der Muskel mit Stress und gibt auf Druck nach. Diese Erstreaktion, so das Konzept, wird vom autonomen Nervensystem gesteuert und kann nicht willentlich kontrolliert werden. Damit kann die Reaktion ein Indikator sein und Informationen preisgeben, sagen Verfechter des Konzeptes. Als zentrales Werkzeug der Kinesiologie ist der Muskeltest keine neue Erfindung. Bereits Hippokrates verwendete vor 2000 Jahren solche Tests, um an verwundeten Soldaten neurologische Verletzungen zu diagnostizieren. Vor 500 Jahren bedienten sich die Maya in Lateinamerika einer vereinfachten Form des Muskeltests, um die Trinkbarkeit von Wasser zu testen.

 

Der Ursprung der Kinesiologie geht auf den US-amerikanischen Chiropraktiker George Goodheart zurück. Dieser griff Mitte des vergangenen Jahrhunderts neurophysiologische Muskeltests auf, die bereits in der Orthopädie, Neurologie und Physiotherapie zum Einsatz kamen. Dabei entdeckte er die Möglichkeit, Korrekturen durchzuführen, indem er neurolymphatische Punkte auf der Vorderseite oder seitlich von der Wirbelsäule massierte oder bestimmte Punkte am Kopf berührte. Vor dem Hintergrund der Traditionellen Chinesischen Medizin stellte er in weiterer Folge fest, dass unsere Muskeln über die Meridiane mit den Organen verbunden sind. Auf Basis dieser Grundlagen entwickelte Goodheart die so genannte Applied Kinesiology oder Angewandte Kinesiologie (AK). In Österreich darf diese nur von Ärzten, Zahnärzten und Physiotherapeuten praktiziert werden, die entsprechende Ausbildungen haben.

 

John F. Thie, ein Schüler von George Goodheart, entwickelte aus der Technik seines Lehrers das „Touch for Health-System“, mit dem Ziel, die Kinesiologie und ihr Heilungspotenzial auch Nicht-Ärzten zugänglich zu machen. „Touch for Health“ vereint Elemente aus der Chiropraktik, Akupressur und Ernährungswissenschaft. Über verschiedene Muskeltests können sowohl der aktuelle Zustand der Meridiane und damit des Energiesystems als auch Ausgleichsmöglichkeiten der Dysbalancen ermittelt werden. In einigen Ausbildungen gehört das „Touch for Health-System“ mit seinem kinesiologischen Basiswissen zur Grundausbildung. „Touch for Health ist die Hausapotheke für jeden“, ist die Kinesiologin und Ausbildnerin Susanne Bichler überzeugt. Laut Kinesiologen gibt es eine Vielzahl von Störungen, Blockaden oder Dysbalancen, bei denen die Kinesiologie Abhilfe schaffen kann. Physische Beschwerden, wie Rückenschmerzen, Zahnfehlstellungen oder Allergien werden ebenso genannt wie emotionale Belastungen, ungesunde körperliche oder emotionale Muster, wie Essstörungen, Nägelbeißen oder Rauchen. Stress, Energiemangel, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Lern- oder Schreibblockaden, sind nur einige mögliche Bereiche, mit denen Kinesiologen arbeiten. Auch bei chronischen Krankheiten wird die Methode unterstützend eingesetzt, sogar bei der Vorbereitung auf chirurgische Eingriffe - immer mit der Einschränkung, dass die Kinesiologie keinen Ersatz für Psychotherapie, psychiatrische Betreuung, Lebensberatung oder eine schulmedizinische Behandlung darstellt.

 

Qualitätsstandards in der Ausbildung

Für Qualitätsstandards in der Ausbildung und in den angewandten Methoden will unter anderem der Österreichische Berufsverband der Kinesiologen (ÖBK) sorgen. Dieser unterscheidet zwischen „klassischen“, „regionalen“ und „ergänzenden“ Methoden. Erstere werden international gelehrt, mit den regionalen Methoden sind Spezialisierungen der einzelnen Schulen gemeint, die unter anderem auch der Abgrenzung untereinander dienen. Mit ergänzenden Methoden werden jene Techniken zusammengefasst, die eine Ausbildung sinnvoll bereichern, für sich genommen aber nicht als eigenständige Ausbildung anerkannt sind, wie etwa das systemische Familienstellen.

 

Auf der Homepage des ÖBK werden 150 freiwillige Mitglieder gelistet. Wer nach einer Kinesiologie-Ausbildung sucht, findet dort die Kurse der ausbildungsberechtigten Mitglieder, aber keine Institute. Gegen die Nennung solcher verwehrt sich der Verband. „Wir dürfen keine Empfehlungen für irgendeines unserer Mitglieder abgeben, sondern vertreten alle gleichberechtigt“, erklärt Sabine Seiter, Sprecherin des ÖBK. Die einzelnen Kinesiologie-Ausbildungs-Stätten versuchen, sich durch verschiedene Schwerpunkte voneinander abzugrenzen. Auf energetische Bereiche will sich etwa das Amaté-Institut in Wien konzentrieren. Eine dezidiert wirtschaftliche Ausrichtung hat die Balance-Akademie in Graz. „Die Kinesiologie ist eine äußerst effiziente Methode, wir fänden es deshalb schade, wenn sie nur im privaten Kontext zum Einsatz käme“, erklärt Ruth Berghofer, Leiterin der Balance-Akademie. Die einzige auch international vom International Kinesiology College anerkannte Ausbildung hierzulande ist der dreijährige Lehrgang Akademische Kinesiologie, der an der Österreichischen Akademie für Kinesiologie und Gesundheit in Groß Enzersdorf absolviert werden kann.

 

Eheliche Krankheiten im Gleichklang

Wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit der Kinesiologie sind wie so oft bei alternativ- oder komplementärmedizinischen Methoden mehr als rar. Bei einer im Jahr 2007 im „Scientific World Journal“ veröffentlichten Studie wurde überprüft, ob sich der kinesiologische Muskeltest als Methode für die Prognose der Wirksamkeit eines Cholesterin senkenden Medikaments eignet. „Der tatsächliche Effekt der (schulmedizinischen) Intervention korrelierte mit der Vorab-Einschätzung durch den kinesiologischen Muskeltest mit statistischer Signifikanz“, heißt es im Resumé der Autorin Ingrid Waxenegger.

 

Der Muskeltest, das grundlegende Werkzeug der Kinesiologie, ist auch Stein des Anstoßes bei Kritikern der Kinesiologie. Kritiker stellen die Neutralität des Tests infrage und gehen davon aus, dass er sowohl vonseiten des Klienten als auch des Behandlers manipulierbar ist. Ruth Berghofer bestätigt, dass der Muskeltest durchaus kein untrügliches Werkzeug ist: „Die Testung kann nur so gut sein, wie der Tester. Deshalb legen wir auch Wert auf eine lange und fundierte Ausbildung und bemühen uns um Qualität. Ein Kinesiologe muss in seine Rolle erst hineinwachsen. Eine hundertprozentige Sicherheit kann es allerdings nie geben, die gibt’s auch bei Geräten nicht.“

 

Trotz unterschiedlichen Ausrichtungen und Testpräferenzen ähneln sich die Abläufe einer kinesiologischen Sitzung. Nach einem Vorgespräch folgen je nach Schule kürzere oder längere Vortests, bei denen zum einen die Testbarkeit des Klienten festgestellt und über den Muskeltest erfragt wird, ob das Klientensystem damit einverstanden ist, zu einem bestimmten Thema zu arbeiten. Wiederum über den Muskeltest werden die Auslöser für Dysbalancen ermittelt beziehungsweise präzisiert und in Folge Lösungsmöglichkeiten gesucht. Manche Richtungen arbeiten mit Karten, die während der Sitzung auf den Körper des Behandelten gelegt werden, Fragekatalogen, Farbbrillen oder auch Ätherischen Ölen, die direkt das limbische System ansprechen sollen. Wieder andere konzentrieren sich auf bestimmte neuralgische Punkte am Körper. Manche Kinesiologen wollen sich im Sinne der Methode allerdings nicht auf bestimmte Hilfsmittel beschränken. „Alles kann mit allem gelöst werden“, sagte der Kinesiologie-Pionier Max Wrangler, der den Zweig der Psychosomatischen Kinesiologie begründete.

 

Horst Rinder, Krankenpfleger und Kinesiologe sieht in diesem Sinne die Kinesiologie als ergänzende Methode: „Ich mag die Bezeichnung ‚alternativ’ im Zusammenhang mit der Kinesiologie nicht besonders, weil sie vielmehr eine komplementäre Methode ist. Die Zusammenarbeit zwischen der klassischen Schulmedizin und komplementären Richtungen sollte generell viel mehr unterstützt werden.“

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