Mit Achtsamkeit zur Lebensfreude

 

Nicht selten kommen Patienten mit diffusen Schmerzen und Störungen in psychosomatische Kliniken, schildert Andreas Remmel im Gespräch mit Sigrun Saunderson. Dahinter steckten oft psychische Erkrankungen.

 

lebensweise: Mit welchen Beschwerden kommen Patienten ins Psychosomatische Zentrum Waldviertel?

Andreas Remmel: Unsere Patienten werden von Ärzten oder Spitälern zu uns überwiesen. Sie fühlen sich meist ausgebrannt oder erschöpft und klagen etwa über diffuse Schmerzen, Magen-/Darm-Probleme, Essstörungen, Herzrasen oder sogar Lähmungserscheinungen. Nach einer intensiven Diagnostik sehen wir, dass dahinter oft unterschiedliche psychische Erkrankungen stecken.

 

lebensweise: Welche zum Beispiel?

Remmel:Zu den häufigsten gehören Depressionen, Somatisierungsstörungen, Traumafolgen, Beziehungsstörungen und Angsterkrankungen.

 

lebensweise: Massive psychische Probleme können also zu ganz unterschiedlichen Erkrankungen führen?

Remmel:Eine wichtige Rolle spielt dabei die Verarbeitung von Stress, Bedürfnissen und Gefühlen. Stress als Missverhältnis zwischen Anforderungen und Leistungsmöglichkeiten kann körperlich, seelisch oder auf der Beziehungsebene entstehen und hat Auswirkungen auf Körper, Psyche und soziales Verhalten. Chronischer Stress greift in die Regulationsmechanismen von Gehirn, Herz-Kreislauf und Immunsytem ein. Studien zeigen, dass Menschen mit Herzerkrankungen ein  bis zu zehnmal höheres Risiko haben, daran zu sterben, wenn sie zusätzlich chronisch depressiv sind.

 

lebensweise: Wie können Sie psychosomatischen Patienten helfen, diesen Stress abzubauen?

Remmel:Es geht darum zu lernen, sich selbst in seinem Leben, in seiner Körperlichkeit und Seele zu verstehen und zu klären; seine Ressourcen, Begabungen, Kreativität und Lebensbejahung kennenzulernen und mehr für seine eigene Erholungs- und Widerstandsfähigkeit zu tun.

 

lebensweise: Und wie kann man das lernen?

Remmel:Wir bieten dazu ein breites Spektrum an Therapien, individuell auf Patienten zugeschnitten: psychotherapeutische Verfahren aber auch Spezialtherapien wie Musik- und Bewegungstherapie, Tiergestützte Therapie und achtsamkeitsbasierte Verfahren wie Meditation und Kampfkunst. Wichtig ist uns die Achtsamkeit.

 

lebensweise: Worum geht es dabei genau?

Remmel:Achtsamkeit ist keine Therapie an sich, sondern hat ihre Wurzeln in der buddhistischen Philosophie und Psychologie ohne religiöse oder spirituelle Prägung. Gemäß asiatischer Psychologie entsteht Leiden, wenn ich an etwas anhafte oder etwas verdrängen will, anstatt mich den Phänomenen zu stellen. Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment, ohne zu bewerten, festhalten oder wegschieben zu wollen. Sie lehrt, Phänomene wahrzunehmen, wie sie sind, und zu sehen, dass sie sich auch beständig verändern und vorbeigehen.

 

lebensweise: Wie funktioniert das in der Therapie?

Remmel:Ein achtsamer Therapeut nimmt eine wohlwollende Haltung ein. Menschen betrachten sich selbst meist sehr kritisch, leben mit permanenter Selbstbewertung, die Stress verursacht. Achtsamkeit ermöglicht, sich selbst in wohlwollender Güte anzunehmen. Im nächsten Schritt geht es darum, dass man lernt, Aufmerksamkeit auf sein Bewusstsein zu lenken und ohne Bewertung mitzubekommen: Was macht mich gerade aus, welche Gedanken, Bewertungen, Gefühle, Empfindungen, Impulse habe ich? So nimmt man den momentanen Zustand wahr und lernt, dass er sich auch ändern kann. Dies gilt auch für unangenehme Empfindungen und Bewertungen.

 

lebensweise: Warum ist das so wichtig?

Remmel:Die meisten Menschen identifizieren sich völlig mit ihrem Problem. Die Achtsamkeit versucht, Bewusstseinsinhalte anzuschauen, ohne sich damit voll zu identifizieren und sich so zum Beispiel von der Angst oder Depression zu trennen. Etwa durch Meditation. Achtsamkeit ist aber nicht Wellness, sondern Arbeit: Wenn ich mich mit meinem Bewusstsein auseinandersetze, ist das anstrengend, weil vieles hochgespült wird, das mir neu ist. Es führt aber zu mehr Lebensfreude.

 


 

Zur Person: Prim. Prof. Dr. Dr. Dipl. Psych. Andreas Remmel ist ärztlicher Direktor des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel.

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