"Gibt nur eine Medizin"

Akupunktur wirkt, aber nicht in jedem Fall. Daher sollte sie eine Ergänzung und keine Konkurrenz zur Schulmedizin sein. Foto:Yanik Chauvin/Photoxpress.com
Akupunktur wirkt, aber nicht in jedem Fall. Daher sollte sie eine Ergänzung und keine Konkurrenz zur Schulmedizin sein. Foto:Yanik Chauvin/Photoxpress.com

 

 

Experte Helmut Nissel erläutert, warum auch die Akupunktur in Europa längst eine wissenschaftliche Heilmethode ist, obwohl manche Studien zu anderen Ergebnissen kommen, wie er Sigrun Saunderson erläutert.

 

lebensweise: Wie sieht für Sie die Zusammenarbeit zwischen Akupunktur und Schulmedizin aus?

Helmut Nissel: Es gibt für mich nur eine Medizin: Wir versuchen herauszufinden, was für einen Menschen gerade in seinem Fall das Beste ist. Die Akupunktur ist nicht für jede Indikation die geeignetste Behandlung. Sie hat daher nur einen hohen Stellenwert, wenn sie in die Schulmedizin integriert ist. Das Schlimmste wäre, wenn man unkritisch alles behandelt. Da passieren Fehler.

 

lebensweise: Akupunktur ist aber Traditionelle Chinesische Medizin. Wie lässt sich das vereinen?

Nissel: Wir praktizieren sie als Teil unserer westlichen Medizin. Die Traditionelle Chinesische Medizin hat ganz andere Vorstellungen von Gesundheit, Leiden, Krankheit und Tod als wir Europäer. Die Wiener Schule für Akupunktur hat daher nicht die TCM eins zu eins übernommen, sondern Schritt für Schritt in unsere westliche Heilkunst eingebaut.

 

lebensweise: Die Akupunktur nach der Wiener Schule ist also anders als die chinesische Akupunktur?

Nissel: Wenn wir hier genauso therapieren würden wie manche chinesische Kliniken das tun, dann hätten wir gleich den Patientenanwalt am Hals. Wir betreiben aber in der Akupunktur keine andere oder alternative Medizin, sondern unsere Medizin nach westlichem Standard.

 

lebensweise: Wo liegt dann der Unterschied?

Nissel: Der Unterschied liegt in der Wissenschaftlichkeit. In der TCM ist es nicht wichtig zu wissen, warum etwas funktioniert, so lange es funktioniert. In unserer Schulmedizin kann man aber nur punkten, wenn man die Wirkung einer Heilmethode auch erklären kann. Diese wissenschaftliche Erforschung der Akupunktur hat in Österreich erstmals Professor Johannes Bischko vorangetrieben und wir führen sie im Johannes Bischko-Institut weiter.

 

lebensweise: Es gibt auch Studien, die die Akupunktur als reine Placebo-Behandlung darstellen.

Nissel: Es gibt starke Gegner der Akupunktur. Sie ist vor allem der Pharmaindustrie ein Dorn im Auge, weil sie den Bedarf an Medikamenten reduziert. Das war anfangs auch ein großer Vorwurf gegen Bischko. Daraufhin hat er demonstriert, wie an einer Kuh ein Kaiserschnitt gemacht wurde, während sie ausschließlich mit elektrisch stimulierten Akupunkturnadeln betäubt wurde. Dabei hat er auch nachgewiesen, dass die Betäubung nicht funktioniert, wenn man die Nadeln in falsche Punkte sticht. Es mussten die richtigen Akupunkturpunkte sein.

 

lebensweise: Genau dem widerspricht aber die GERAC-Studie. Sie kommt zum Ergebnis, dass es egal ist, ob richtige oder falsche Punkte gestochen werden.

Nissel: Die GERAC-Studie hat ihre Schwächen. Einiges deutet darauf hin, dass viele teilnehmenden Ärzte nicht wirklich die falschen Punkte behandelt haben. Denn wenn der Arzt seine Patienten bewusst falsch behandelt, schadet er sich auch selbst. Weiters hat auch das Danebenstechen eine gewisse Wirkung, solange die Nadel immer noch im richtigen Segment gestochen wird. Daher waren die Erfolge der richtigen und der Placebo-Behandlung annähernd gleich hoch. Interessant ist jedoch, dass beide Akupunkturbehandlungen signifikant wirksamer waren als die Behandlung mit Medikamenten. Ganz abgesehen davon: Wenn zwei Menschen an der gleichen Stelle Schmerz spüren, behandeln wir sie möglicherweise trotzdem an unterschiedlichen Punkten. Denn die Wahl der richtigen Akupunkturpunkte hängt auch von der Persönlichkeit des Patienten ab. Dieses Vorgehen läuft den üblichen Studiendesigns zuwider.

 

lebensweise: Sie behandeln also zum Beispiel die Rückenschmerzen des einen an anderen Punkten als dieselben Rückenschmerzen eines anderen Patienten?

Nissel: Wir versuchen, auf den jeweiligen Menschen einzugehen. Die Menschentypen werden verschiedenen Elementen zugeordnet. Danach richtet sich dann die individuelle Therapie. Die Hauptpunkte sind zwar die gleichen, aber das Rundherum nicht. Das ist die Kunst des Akupunkteurs.

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