Intuition und Naturwissenschaft

Reinhard Schwarz, Kinderarzt in Graz und Vorsitzender der Gesellschaft für Anthroposophische Medizin, über das Geistige in der Therapie.

lebensweise: Inwiefern stellt die Anthroposophische Medizin eine Erweiterung der Schulmedizin dar?

Reinhard Schwarz: Die Universitätsmedizin leistet durch ihre naturwissenschaftlichen Möglichkeiten Grandioses im Bereich des Physischen. Der Anthroposophischen Medizin liegt eine erweiterte Menschenkunde zugrunde. Wir beziehen neben dem Körperlichen auch das Lebendige, Seelische und Geistige eines Menschen mit ein.

 

lebensweise: Wird das Seelische nicht bereits in der Psychosomatik berücksichtigt?

Schwarz: Die Psychosomatik ist ein Schritt, ja. Doch auch sie setzt immer noch voraus, dass das Lebendige, die Lebenskraft, einfach vorhanden ist.

 

lebensweise: Ist sie das nicht immer?

Schwarz: Der Chirurg erwartet, dass sein Schnitt auch wieder zusammenheilt. Das macht der Körper üblicherweise von selbst – mithilfe seiner Lebenskraft. Fehlt diese Kraft, wird auch nichts heilen.

 

lebensweise: Wo geht die Anthroposophische Medizin über Schulmedizin und Psychosomatik hinaus?

Schwarz: Ich bin Facharzt für Kinderheilkunde. Wenn Patienten zu mir kommen, werde ich sie zuerst genau untersuchen und eine Diagnose stellen. Dazu gehören, wenn nötig, zum Beispiel auch Laboruntersuchungen. Zusätzlich werde ich versuchen, auch andere Ebenen für die Gesamtdiagnose dazuzunehmen: die Instanz des Lebendigen und des Seelischen und in jedem Fall die Ich-Präsenz, das Persönlichste im Menschen.

 

lebensweise: Lässt sich die Ich-Präsenz beschreiben?

Schwarz: Sie ist das Geistige im Menschen, wird auch von der persönlichen Biografie geprägt. Sie bestimmt, wie ich Wirklichkeit erfahre, wie sehr ich bewusst im Augenblick bin, weder der Vergangenheit noch der Zukunft anhafte. Beim gesunden Menschen ist die Ich-Organisation Herr im Haus. Alle anderen Wesensglieder sind untergeordnet.

 

lebensweise: Wie zeigt sich eine gestörte Ich-Präsenz?

Schwarz: Geschwächte Ich-Präsenz kann bedeuten, dass ein Mensch Aufgaben nicht ergreifen will oder kann, der Schlaf-Wachrhythmus durch Zeitverschiebungen gestört ist. Zu starke Ich-Präsenz zeigt sich im Beherrschenwollen der Umgebung.


lebensweise: Wie lassen sich die unterschiedlichen Teile des Menschen konkret behandeln? 

Schwarz: Um jene Schichten, die über das wahrnehmbare Körperliche hinausgehen, zu erkennen, erfordert es spirituelle Schulung des Arztes. Die Anthroposophie zeigt Wege für eine solche Schulung. Das lässt sich allerdings nicht so einfach studieren. Dazu ist eine Erweiterung und Schulung der Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit erforderlich.

 

lebensweise: Welche zusätzlichen Wahrnehmungen?

Schwarz: Zunächst erreicht man die Stufe der Imagination, man nimmt höhere Erkenntnisse als Bilder wahr, lernt darin zu lesen. Die nächste Stufe ist Inspiration, eine dem Hören entsprechende innere Wahrnehmung, man lernt, mit geistigen Wesen umzugehen. Der Austausch mit der geistigen Welt erfolgt in der höchsten Stufe, der Intuition.

 

lebensweise: Sie glauben an geistige Wesen?

Schwarz: Die geistige Welt existiert genauso wie die materielle Welt. Wer seine Wahrnehmungsfähigkeit erweitert, bekommt einen Zugang dazu.

 

lebensweise: Mit dieser Ansicht kommt die Anthroposophie in Konflikt mit der Wissenschaft. 

Schwarz: Die derzeitige physikalisch-chemisch-orientierte Wissenschaft will die anderen Seinsebenen nicht unbedingt akzeptieren, weil sie nicht auf die gleiche physikalisch-chemische Art wissenschaftlich erforschbar sind.

 

lebensweise: Vieles in  der Anthroposophischen Medizin wurden von Steiners angeblicher Hellsichtigkeit angeregt. Wie zuverlässig kann so etwas sein?

Schwarz: Dazu zwei Beispiele: Steiner hat 1920 für Asthmatiker ein Bittermittel empfohlen, das wir bis heute verwenden. Erst letztes Jahr haben Wissenschafter entdeckt, dass im Bronchialsystem Geschmacksrezeptoren vorkommen, die auf Bittermittel reagieren.  Aktuelle Untersuchungen belegen die gute inhalative Anwendung dieser Substanzen vor allem bei Kindern, hier wirken diese Bitterstoffe sogar besser als gängige Asthmamittel. Steiner hat auch angeregt, so genannte Geisteskrankheiten wie Stoffwechselkrankheiten zu behandeln. Heute hat die Naturwissenschaft Belege dafür, dass bei psychotischen Krankheiten Störungen im Zellstoffwechsel die Ursache sind.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0