Viel Heilermut, wenig Chemie

Rudolf Steiner, 1861 in Österreich-Ungarn geboren, studierte in Wien Biologie, Chemie und Physik. 1897 übersiedelte er nach Berlin, wandte sich dort den Geisteswissenschaften zu. Foto: Dokumentation am Goetheanum
Rudolf Steiner, 1861 in Österreich-Ungarn geboren, studierte in Wien Biologie, Chemie und Physik. 1897 übersiedelte er nach Berlin, wandte sich dort den Geisteswissenschaften zu. Foto: Dokumentation am Goetheanum

 

SERIE: Ganzheitlich Heilen:

Total abgehoben oder am Boden der Realität? Was die Anthroposophische Medizin zum heißen Eisen macht und warum sie nicht als Ersatz sondern als Erweiterung der Schulmedizin gelten will.

Von Sigrun Saunderson

Wenn in der Akutgeriatrie des Wiener Otto-Wagner-Spitals Patienten an der Staffelei sitzen und ein Stillleben zu Papier bringen, dann ist das kein belangloser Zeitvertreib. Malen und Zeichnen unter therapeutischer Anleitung soll ihnen helfen, sich wieder im Alltag zurechtzufinden. Geleitet werden diese Malstunden von der anthroposophischen Kunsttherapeutin Susanne Kos. „Zu mir kommen hauptsächlich Menschen, deren Krankheit auch einen seelischen Anteil hat, wie Depressionen, Lungenprobleme, Demenz und Alzheimer, aber auch Krebs.” Kos versucht in ihrer Arbeit mit den Patienten deren Seele anzusprechen. Sie lässt sie zunächst ein Bild frei malen. Aus diesem Bild und der individuellen Krankengeschichte ergeben sich die weiteren Schritte für ihre Maltherapie.

 

„Wer Depressionen hat, malt in dunklen Farben. Form und Thematik sind meist schwer. Hier geht es darum, die Farblichkeit aufzuhellen, Wind, Wasser und Luft ins Bild zu bringen und damit Bewegung zu erzeugen. Bei dementen Patienten hingegen zerfallen die Bilder oft in viele Einzelteile. Je stärker der Grad der Demenz, desto fragmentarischer das Bild. Mit diesen Patienten versuche ich, wieder an die Wahrnehmung anzuknüpfen.” Das funktioniert zum Beispiel, indem Kos sie eine Blume abzeichnen lässt. „Demenzkranke müssen diese Blume erst einmal wahrnehmen, bevor sie versuchen können, sie auf‘s Papier zu bringen.” Im Lauf einer mehrwöchigen Maltherapie können die Patienten oft die Einzelteile eines Bildes wieder zusammenschließen. „Das muss nicht stabil sein. Aber es kann Momente geben, in denen das gelingt.” Sind auch solche kurzen Momente den Aufwand wert?

 

„Aus anthroposophischer Sicht hat jeder Moment, in dem ein Mensch wieder an sein Ich anschließen kann, einen Wert. Denn wenn niemand mehr dieses Ich anspricht – etwa in der menschlichen Begegnung oder in der Maltherapie – führt das zu einer Schwächung der Ich-Wirksamkeit”. Dies löse ein Gefühl der völligen Verlorenheit im Leben aus. Nach anthroposophischer Auffassung sei es aber gerade dieses Ich, das den Menschen ausmacht, seine Seele auch nach dem Tod leitet.

 

Erweitertes Menschenbild als Zündstoff

Ihr erweitertes Menschenbild ist es, was die Anthroposophische Medizin von der westlichen Schulmedizin unterscheidet und für viele zum heißen Eisen macht. Ähnlich wie bei den meisten komplementären Heilmethoden richten sich anthroposophische Ärzte nicht allein an den physischen Körper. Sie unterscheiden und behandeln zusätzlich Lebensleib (Vitalität), Astralleib (Seele) und das alles organisierende Ich (Bewusstsein seiner selbst). Sie gehen aber auch weiter als Vertreter anderer komplementärer Methoden. Denn sie machen kein Geheimnis daraus, dass ihre Heilkunst zum Teil ausdrücklich auf außersinnlichen Wahrnehmungen beruht, und sind überzeugt, dass ein unsterblicher Anteil des Menschen existiere, der immer wieder geboren werde. Ansichten wie diese sind für Kritiker natürlich Zündstoff.

 

Die Anthroposophische Medizin ist zwar seit 1999 von der Österreichischen Ärztekammer als Komplementäre Methode anerkannt, dennoch ist sie mit ihren Therapien an den österreichischen Spitälern nur vereinzelt vertreten. Kos’ Kunsttherapie kann auf der Akutgeriatrie nur Dank Drittmittelfinanzierung an zwei halben Tagen pro Woche stattfinden. Im Gegensatz zu Deutschland und der Schweiz: Dort bieten mehrere Spitäler in ihren komplementärmedizinischen Abteilungen ganz selbstverständlich auch Anthroposophische Methoden an: pflanzliche Arzneimittel, Bäder, rhythmische Massagen, Bewegungstherapie (Heil-eurythmie) und Kunsttherapie. Ganze anthroposphische Kliniken decken sogar von Notfallstation bis Innere Medizin und Psychiatrie alle Fachgebiete eines modernen Spitals ab – geführt im Geist der Anthroposophischen Medizin.

 

Anthroposophische Ärzte sind jedoch keine Naturheilpraktiker, sondern wenden selbstverständlich auch schulmedizinische Methoden an. Ihnen geht es dabei nicht nur darum, das körperliche Befinden ihrer Patienten zu verbessern, sondern auch die Fähigkeit, mit sich selbst und den eigenen Einschränkungen umgehen zu können. Die Anthroposophische Medizin zielt ausdrücklich auf ein freies Individuum ab. Sie will die Unabhängigkeit fördern und die Menschen auch nicht in eine alte Gesundheit und ein altes Lebensmuster zurückführen. Stattdessen soll ein Patient nach anthroposophischer Auffassung seine „neue Gesundheit” entwickeln. Dann war die Krankheit eine „Chance zur Veränderung.”

 

Diese anthroposophische Einstellung zur Krankheit spielt eine besonders große Rolle in der Kinderheilkunde. Der Arzt versteht sich hier als Begleiter, nicht als Unterdrücker von Krankheit. Dementsprechend kritisch sehen anthroposophische Ärzte auch den übermäßigen Einsatz von Impfungen und Antibiotika. „Man wird nicht krank, weil man Streptokokken im Mund hat. Viele haben diese Bakterien im Abstrich und sind trotzdem gesund”, erklärt der in Wien arbeitende  antroposophische Kinderarzt Martin David. „Man wird nur krank, wenn auch die Bedingungen im Körper gegeben sind, dass der Keim wachsen kann.” So entstünden Mund- und Windelpilz bei Kleinkindern vor allem durch schlecht verdauliche Nahrung. Der Stuhl werde schärfer, was wiederum die Haut in der Windelzone empfindlicher mache. Erst dann könne der Pilz wachsen.

 

Daraus zieht die Anthroposophische Medizin den Schluss, dass der Patient selbst Einfluss auf die Entstehung einer Krankheit – und damit auf deren Heilung – habe. Die Krankheit zeige sozusagen, dass etwas falsch laufe. Um gesund zu werden, bedürfe es daher eines Lernprozesses, einer Veränderung der Lebensbedingungen: von einer simplen Ernährungsumstellung bis zur Reduktion von Stress. „Ein sehr einfaches Beispiel ist die Erkältung, die Kinder besonders oft bekommen. Wer sich erkältet, hat sich unterkühlt. Ein offensichtlicher Lernschritt daraus ist, sich bei kaltem Wetter warm anzuziehen”, sagt David.

 

Um aber diesen Lernprozess durchlaufen zu können, dürfe man eine Erkrankung nicht von vornherein unterdrücken. Sowohl Antibiotika als auch fiebersenkende Mittel werden daher von anthroposophischen Ärzten äußerst sparsam eingesetzt. „Jede Erkrankung mit Fieber hilft bei Kindern, Entwicklungsschritte zu machen. Das lässt sich beobachten: Nach einem Fieber haben Kinder oft plötzlich etwas Neues gelernt. Das können sprachliche Entwicklungsschübe sein oder neue soziale Fähigkeiten wie Rücksicht nehmen oder Bitte sagen. Zusätzlich ist jede Krankheit auch ein immunologischer Lernprozess. Der Körper lernt, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen, sich zu behaupten. All dies würde mit einer antibiotischen Therapie unterbunden.” Je mehr man das Kranksein in der Kindheit unterbinde, desto mehr leiste man später chronischen oder degenerativen Krankheiten Vorschub, ist David überzeugt.

 

Auch den Eltern müssen Ärzte Mut machen

Er bemüht sich daher, seine kleinen Patienten mit Naturheilmitteln und Homöopathie in ihrem Krankheitsprozess zu begleiten und zu stärken. Wenn ein Arzt aber eine Lungenentzündung nicht schulmedizinisch behandelt, braucht er vor allem eines: Mut. „In der Anthroposophischen Medizin sprechen wir von Heilermut. Andere nennen es verantwortungslos und rufen nach dem Patientenanwalt. Da geht es für den Arzt darum, auch den Eltern Mut zu machen, dabei dennoch die Verantwortung zu bewahren, aber auch nicht übermütig zu werden. Ich muss erkennnen, ob das Kind es schaffen kann, und gegebenenfalls auch auf Antibiotika zurückgreifen”, sagt David. Dasselbe gilt, wenn Eltern nicht die Möglichkeit haben, drei Wochen für ihr Kind da zu sein. Denn mit solchen Zeitspannen muss  rechnen, wer eine Lungenentzündung vollständig ausheilen will.

 

Natürlich kommt es auf die Art der Erkrankung an. „Bei  Blinddarmentzündung, Brustkrebs oder Knochenbruch fängt man nicht mit Tröpfchen an.” Die Kombination von Naturheilmitteln und starken Medikamenten im Notfall ist auch der Grund, warum viele Eltern mit ihren Kindern die anthroposophische Praxis aufsuchen. David: „Sie wünschen sich, dass man nicht immer gleich mit harten Sachen, mit Chemie schießt, sind aber froh, dass es diese im Hintergrund auch gibt.”

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