Ganzheitliche Bildung, zufriedene Kinder

Bauen am gemeinsamen Projekt Bildungssystem heißt auch: Krankheiten vorbauen. Denn Bildung macht gesund, wie zahlreiche Studien belegen. Foto: Rudolf Steiner Landschule Schönau
Bauen am gemeinsamen Projekt Bildungssystem heißt auch: Krankheiten vorbauen. Denn Bildung macht gesund, wie zahlreiche Studien belegen. Foto: Rudolf Steiner Landschule Schönau

 

Die Ferien sind vorbei und damit startet der Schulalltag wieder. Gleichzeitig steht das Bildungssystem auf dem Prüfstand. Neue Strukturen und Angebote sollen kommen, ein Volksbegehren fordert Reformen. Es gibt aber auch Bildungsangebote, die andere Ansätze verfolgen, als die im herkömmlichen Regelschulwesen. Eine Spurensuche nach ganzheitlicher Bildung.

Von Christian F. Freisleben-Teutscher

Kinder sitzen auf dem Boden und lernen miteinander. Andere schmökern in unterschiedlichen Büchern, je nach Interesse, und arbeiten Inhalte mit und ohne Unterstützung für andere auf. Jugendliche werken an Langzeitprojekten und engagieren sich auch außerhalb der Schule deutlich mehr als es „Hausaufgaben“ vorschreiben würden. Wieder andere wagen sich aktiv und selbstorganisiert an Themen der Zeit heran wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit, Integration, politische Mitbestimmung, Bevölkerungsentwicklung und ihre Folgen für Gesundheits- und Sozialsystem. Frontalunterricht gehört in vielen öffentlichen Schulen zum Alltag. Es gibt aber viele motivierte Lehrer, die sich weit über das Ausmaß ihrer Lehrverpflichtung engagieren, um gemeinsam an spannenden, bewegenden und nachhaltigen Projekten zu arbeiten. Und parallel dazu finden sich derartige und weiterführende Konzepte in „alternativen“ Schulen und ganzheitlichen Bildungskonzepten wie den Waldorfschulen oder bei Montessoripädagogen.

 

Ein Blick auf aktuelle Daten über österreichische Schüler ist auf den ersten Blick ernüchternd, insbesondere eine Blick auf die Ergebnisse des aktuellen „Pisa-Tests“: Dabei werden jährlich Fähigkeiten ausgewählter Schülerinnen und Schüler aus ganz Europa analysiert. Österreich erreichte dabei Platz 31 unter 34 OECD-Ländern beim Lesen, Platz 24 in Naturwissenschaften und den 18. Platz in Mathematik – damit fiel das Ergebnis schlechter als beim letzten Pisa-Test aus. Kritiker wie Stefan T. Hopmann, Professor für Schul- und Bildungsforschung an der Universität Wien, betonen, dass Langzeitstudien nötig wären, um wirklich sinnvolle Ergebnisse zu erhalten. Die Pisa-Daten würden vor allem zeigen, wie gut Lehrer auf diese spezielle Prüfungssituation vorbereiten können. Erst Ende Juni wurden Ergebnisse einer „Wiener Lesestudie“ vorgestellt. Analysiert wurde die Lesefähigkeit aller Kinder in vierten Volks- und Hauptschulklassen sowie in vierten AHS-Klassen – insgesamt fast 30.000 Kinder. Jeder vierte Zehnjährige wurde als „Risikoschüler“ identifiziert, unter den 14-Jährigen sind zehn Prozent „extrem schwache Leser“ zu finden. Allerdings gab es am Setting Kritik: Es gab enge Zeitvorgaben und eine ungewohnte Prüfungssituation mit auseinander geschobenen Tischen und alphabetischen Aufrufen. Zudem wurden Texte eingesetzt, die teils wissenschaftlichen Charakter hatten.

 

Im Vorjahr führte die Wiener Wirtschaftskammer eine Studie durch, laut der es bei Jugendlichen, die nach Lehrstellen suchen, Bildungsmängel gibt: 54 Prozent der befragten Unternehmen waren unzufrieden mit mathematischen Kenntnissen, dem sprachlichen Ausdrucksvermögen und technischen Verständnis. Es sei schwierig, qualifizierte Lehrlinge zu finden. Jährlich verlassen laut Analyse des Instituts für Höhere Studien etwa 10.000 Jugendliche das Schulsystem ohne Lehr-, Fachschul- oder Maturaabschluss. Besonders stark gilt dies für Kinder, deren Eltern selbst nur eine niedrige Schulbildung haben. Häufig sind auch Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Die Folge: Nur knapp 40 Prozent der „frühen Schulabgänger“ finden später einen Job.

 

Dabei gibt es an öffentlichen Schulen eine große Bandbreite an spannenden und langfristig angelegten Projekten. Oft werden dabei „übliche“ Lernstrukturen verlassen und Ansätze wie fächerübergreifender Unterricht, selbstbestimmtes Lernen, Arbeiten in Kleingruppen, hohe Praxisnähe  mit Leben erfüllt. „Die Erfahrungen aus berufsorientierenden Schulen wie Handelsakademien und Höheren Technischen Lehranstalten zeigen deutlich, welche Vorteile es bringt, solche Vorhaben über ein Schuljahr zu ziehen, anstatt sie nur in der letzten Schulwoche als Lückenfüller umzusetzen“, analysiert Kurt Fritzenwanger. Er unterrichtet an der Handelsakademie in Kitzbühel und setzt Projekte wie „Entrepreneurship-Education als Unterrichtsprinzip“ um, mit einem Fokus auf das spätere Berufsleben. Fritzenwanger ist zudem Koordinator der Plattform www.schulprojekte.com, wo sich viele Beispiele von Projekten aus berufsbildenden Schulen in Tirol finden.

 

Zu wenig vermitteltes Anwendungswissen

Fritzenwanger: „Bei dem Begriff ‚ganzheitliche Bildung‘ denke ich an Anwendungswissen“, dieses werde im Regelschulwesen leider oft wenig vermittelt. Es reiche nicht aus, auswendig gelernte Fakten in Stresssituationen einigermaßen gut wiedergeben zu können. Die Vorgangsweise in Kitzbühel und anderen Schulen zeige, welche Vorteile nachhaltig angelegte Projektarbeit bringt: „Schüler erlangen mehr Selbstständigkeit, können Zusammenhänge herstellen, sind Teamarbeit gewohnt und übernehmen dabei unterschiedliche Rollen oder Aufgaben und lernen auch dann, wenn nicht ständig Druck durch nahende Prüfungstermine aufgebaut wird“, sagt Fritzenwanger. Für eine Bildungsreform sollte aus seiner Sicht bei der Ausbildung der Lehrer angesetzt werden, für alle Schulzweige: „Projekte gut vorzubereiten und langfristig umzusetzen braucht eine entsprechende Schulung.“ Gleichzeitig wichtig wären Rahmenbedingungen an Schulen, die Kooperationen zwischen Lehrern unterstützen. Bei berufsbildenden Schulen wäre zudem wichtig, dass Lehrende Berufspraxis haben, um die Vermittlung von Erfahrungswissen umsetzen zu können. Neben Initiativen im Regelschulwesen gibt es in Österreich auch viele Angebote in freien Schule, die immer stärker nachgefragt werden.

 

„Ganzheitlichkeit heißt, nicht nur auf die Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Rechnen und Schreiben zu achten, sondern genauso auf soziale Kompetenzen. Wichtig ist zudem, sich an Interessen und der Individualität der Kinder und Jugendlichen zu orientieren“, sagt Momo Kreutz. Sie ist Geschäftsführerin des Netzwerks Freier Schulen sowie Vorstandsmitglied in „Effe Österreich“, der regionalen Stelle des „European Forum for Freedom of Education“, eine NGO mit Mitgliedern aus 30 europäischen Ländern.

 

Ein typisches Merkmal einer freien Schule ist, dass es wenig bis keine Prüfungssituationen, Schularbeiten oder eine Benotung gibt. Eine wichtige Grundhaltung ist für Kreutz, darauf zu achten, „wofür sich ein Kind oder Jugendlicher aktuell interessiert und darauf einzugehen. Das bedeutet nicht, in einer passiven Rolle zu verharren, nur zu warten, bis ein Kind kommt. Es gilt Impulse und Anreize zu geben, sich Themen anzunähern.“ Wenn ein Kind sich etwa in eine Ecke zurückzieht, um Bücher über Dinosaurierer anzusehen, wäre gleichzeitig wichtig darauf zu achten, ob dieses Verhalten mit der aktuellen sozialen Situation, mit Sorgen verbunden ist. Weiters bleibt der Blick auf die Gruppe wichtig, gemeinsam Themen auf vielfältige Weise zu bearbeiten.

 

„Lehrende an freien Schulen agieren spontaner und versuchen gleichzeitig, nicht den Blick auf Fähigkeiten zu verlieren, die in Übergangssituationen, etwa von Grundschule beziehungsweise vierter Schulstufe zu weiterführenden Bildungssystemen, verlangt werden.“ Es gibt Differenzlehrpläne, die das gewährleisten, und sollten in einzelnen Bereichen tatsächlich Defizite vorhanden sein, würden diese meist innerhalb sehr kurzer Zeit aufgeholt. „Ein wichtiges Element ist die enge Einbindung der Eltern“, betont Kreutz – Freie Schulen entstehen oft aus dem Bedürfnis heraus, mehr zu tun, als ein Kind zur Schule zu bringen, nach einigen Stunden wieder abzuholen und bei Hausübungen zu unterstützen. „Es werden Ressourcen vorhandener Grundberufe genutzt, weiters wird ständig gemeinsam überprüft, wo jedes Kind steht, welche Akzente momentan wichtig sind. Ein weiteres wichtiges Thema ist die gemeinsame Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für eine gute Lernkultur.“

 

Kreutz weist darauf hin, dass gerade Freie Schulen viel über Qualität von Lernen nachdenken – so gibt es oft ein Qualitätsmanagementsystem, in dem auch die Eltern eng eingebunden sind. Wir verstehen uns als Impulsgeber für die Weiterentwicklung des Bildungssystems, so finden international besetzte Symposien und Fortbildungen statt und wir haben eine Zukunftsvision 2030 entwickelt“, so Kreutz. Schwerpunkte der Vision sind mehr Autonomie für einzelne Schulen, die Förderung einer bunten Vielfalt im Schulsystem und die Frage der Finanzierung. „Auch wenn viele Freie Schulen Fördersysteme für Familien mit geringen Einkommen haben: Die Frage des Geldes ist oft ein Grund, sich gegen eine solche Schule zu entscheiden.“ Ziel sei, dass sich Eltern beziehungsweise Kinder frei entscheiden können, welche Schule sie besuchen, dies von der öffentlichen Hand für alle einheitlich finanziert wird.

 

Der Lebensberater und Erwachsenenbildner Benno Kapelari hat sich in seinem „Handbuch Freie Alternativschulen“ (Renate Götz Verlag) mit Biografien von Absolventen Freier Schulen beschäftigt. Für ihn müsse ganzheitliche Bildung von Nachhaltigkeit geprägt sein. „Es sollte um die Förderung von natürlichen Kreisläufen gehen, um eine Unterstützung, die deutlich über Momentaufnahmen hinausgeht.“ Dass die Zahl von Kindern mit Diagnosen wie Legasthenie, Dyskalkulie oder Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stark steigt, ist für Kapelari Symptom eines Schulsystems, das in vielen Feldern wenig von Nachhaltigkeit geprägt sei. Er ortet aktuell einige grundsätzlich positive Ansätze im Bildungswesen: „Der Grundansatz der Neuen Mittelschule (NMS) mit zwei Lehrern in der Klasse und deutlich mehr an individueller Förderung ist zu begrüßen.“

 

Es gibt viele Schulen in Österreich, die sich hier sehr stark engagieren, gleichzeitig ist die NMS aber oft nicht mehr als eine Fassade. Bedauernswert ist für Kapelari, „dass zuletzt nur noch über die Anzahl der Fünfer diskutiert wurde, mit denen ein Aufsteigen möglich ist. Die Idee eines modularen Systems ist sehr spannend, besonders die Förderung für Schüler mit Problemen in einzelnen Modulen.“ In der Befragung der Absolventen Freier Schulen zeigte sich zunächst, dass sich diese in weiterführenden Schulen oder Ausbildungswegen im Normalfall sehr rasch integrieren konnten. Lehrende und Ausbildner streuen diesen Jugendlichen Rosen: Sie würden sich durch ein hohes Maß an sozialen Kompetenzen auszeichnen und hätten positive Effekte auf die Gruppendynamik.

 

Wer selbst daran denkt, eine Freie Schule zu gründen, dem empfiehlt Kapelari zunächst auf bereits vorhandene Modelle und Erfahrungen zu schauen. Weiters wichtig ist von Anfang an ein guter Kontakt zu regionalen Politikern, besonders auf Ebene der Schulverwaltung. „Eine Freie Schule ist ein Raum, wo sich Eltern sehr aktiv einbringen können, wo Lernen als Prozess erlebbar ist, der stark von Partizipation, von gemeinsamen Gestalten und Wachsen geprägt ist.“ In seinem Buch gibt Kapelari Tipps, wie mit Konflikten in Gründungsgruppen umgegangen werden kann, und wie Elemente aus verschiedenen Ansätzen der Reformpädagogik kombinierbar sind. Gerade auch die Ergebnisse der Analysen von Kapelari sind für Kreutz ein deutliches Zeichen, dass der Dialog zwischen freien und öffentlichen Schulen noch stärker gefördert werden müsste, um von- und miteinander zu lernen.

 

Dies müsste auch Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung von Lehrerpersonal haben. Es gibt zwar teils Angebote zu Themen wie Waldorf- oder Montessoripädagogik, diese müssen aber oft selbst finanziert werden und sind selten fixer Teil – der Grundqualifikation.

 

 

Ein kleiner Überblick

 

Freie Schulen – Über Effe Österreich sind 80 Freie Schulen organisiert, insgesamt gibt es ca. 110, Tendenz steigend. Träger sind nicht wie bei öffentlichen Schulen Gemeinden oder Städte bzw. Bund oder Land sondern Privatinitiativen, die teils sehr unterschiedlich strukturiert sind. Die ersten freien Schulen entstanden hierzulande in den 19siebziger-Jahren – viele davon bestehen noch heute. Für den Besuch der Schule zahlen Eltern Beiträge um die 300 Euro monatlich, teils gibt es Unterstützung für Familien mit geringem Einkommen. Infos: www.unsereschulen.at

 

Waldorfschulen– es gibt 18 Schulen in Österreich, die sich am Weltbild und den Haltungen der von Rudolf Steiner geprägten Anthroposophie orientieren. Wichtigen Stellenwert hat der kreative Ausdruck durch Malen, Zeichnen, Werken, Sport und Tanzen. Inhalte werden in Form von „Etappen“ behandelt – es werden also etwa bestimmte Zeiten der Geschichte behandelt in allen Aspekten. Weitere Informationen: www.waldorf.at

 

Montessori Gesellschaft – es gibt etwa 15 Schulen, die sich stark an den Konzepten von Maria Montessori orientieren. Sie war vor 95 Jahren nicht nur die erste weibliche Ärztin Italiens sondern entwickelte auch eine Pädagogik, die u.a. stark von Freiarbeit, offenem Unterricht und Lernen mit dem ganzen Körper geprägt ist. Viele Elemente aus diesem Ansatz finden sich inzwischen in unterschiedlich starker Ausprägung auch gerade in öffentlichen Volks- und Hauptschulen.

Infos: http://montessori.at/oemg/kinderhaeuser-schulen.xhtml

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