Reiten auf Rezept

Der "Gleichgewichtsdialog" ermöglicht eine Kommunikation zwischen Pferd, Patient, Pferdeführer und Therapeut: mental und körperlich. Foto:Randa Hodum-Elsayed Ali
Der "Gleichgewichtsdialog" ermöglicht eine Kommunikation zwischen Pferd, Patient, Pferdeführer und Therapeut: mental und körperlich. Foto:Randa Hodum-Elsayed Ali

 

Jedes Kind hat einen Traum. So mancher hat vier Beine und ist deutlich größer als Hund oder Katze. Doch Pferde können nicht nur Wünsche wahr werden lassen, sondern auch therapeutische Hilfe leisten. Und zwar nicht nur Kindern.

 

Von Nicole Makarewicz

Marcel reitet. Wäre er nicht schwer behindert, wäre dieses für einen 14jährigen Burschen ungewöhnliche Hobby das einzig Erwähnenswerte. Marcels Reitstunden wurden ärztlich verordnet. „Auf die Idee, mit einem Kind, das nicht sitzen kann, Hippotherapie zu machen, wäre ich nie gekommen“, erzählt seine Mutter Karin. „Vor ungefähr zwei Jahren lernten wir dann unsere Physiotherapeutin Randa Hodum-Elsayed Ali kennen. Auf ihre Empfehlung hin begannen wir mit der Hippotherapie. Ihre liebevolle Art im Umgang mit meinem Sohn, der nette Charakter unseres Therapiepferdes und der beste Pferdeführer der Welt zerstreuten meine anfänglichen Befürchtungen. Marcel hatte zwar seit seiner Geburt immer wieder Kontakt mit Hunden und Katzen, doch ich kann nicht reiten und habe auch keine Ahnung von Pferden.“

 

Hippotherapie ist eine besondere Form der Krankengymnastik. „Die Therapie am Pferd ist als Ergänzung und Schwierigkeitssteigerung zur klassischen Physiotherapie zu sehen“, erklärt Randa Hodum-Elsayed Ali (siehe auch Interview Seite 9). Das Therapiepferd wird zum Medium, das Bewegungsimpulse auf das Becken des Patienten überträgt, was einen heilenden Effekt haben soll. Im Zuge der Therapie entwickeln die Patienten ein Gefühl für ihre Körpermitte, stabilisieren ihre Muskulatur und lernen korrigierende Haltungen, die den Muskeltonus positiv beeinflussen. Durch die rhythmischen, sich wiederholenden Bewegungen werden Gleichgewichtssinn, Koordination, Atmung, Sensorik und Psyche angesprochen. Neue Bewegungsabläufe können geübt werden. „Marcel hat durch die Therapie gelernt, Dinge länger festzuhalten und akzeptiert mittlerweile die unangenehmen Dehnübungen auf dem Pferd viel besser. Gesundheitlich verbuchen wir als Riesenerfolg, dass Marcel im letzten Jahr nicht krank war“, lobt seine Mutter die positiven Auswirkungen der Hippotherapie.

 

Für einen Teil der Kosten kommt die Krankenkasse auf. Wobei eine ärztliche Verordnung nicht automatisch zur finanziellen Unterstützung führt, erklärt Frau Hodum-Elsayed Ali. „Unsere Klienten sind hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Vor allem, weil diese eher eine Therapiebewilligung von der Krankenkasse bekommen. Wir haben einige erwachsene Patienten mit Multipler Sklerose, die allerdings ziemlich um die Bewilligung kämpfen mussten.“

 

Schon die Nähe von Tieren kann hilfreich sein

Der Grundgedanke der tiergestützten Pädagogik ist, dass bereits die Nähe von Tieren hilfreich sein kann. (Klein-)Kinder lassen sich von ihren Bedürfnissen und Antrieben leiten – eine Ursprünglichkeit, die ihnen im Laufe der Zeit abhanden kommt bzw. abtrainiert wird. Das macht den Kontakt mit Tieren besonders für Kinder so wertvoll. Denn Tieren und Kindern sind Benimmregeln (noch) egal, sie gehen offen auf ihr Gegenüber zu, geben eindeutige Rückmeldungen und haben keine Hintergedanken. „Das vorurteilsfreie Verhalten von Tieren gegenüber jeder Art von Behinderung stärkt das Selbstwertgefühl“, betont Frau Hodum-Elsayed Ali diesen zentralen Aspekt. „Pferde spiegeln das Verhalten der Menschen und lassen sich durch Äußerlichkeiten nicht täuschen“, ergänzt Anita Platzer von der oberösterreichischen Dependance des Kärntner ReitTherapie- und Ausbildungshofes Dell‘mour. „Sie sind wertfrei und reagieren unmittelbar. Mach ich‘s beim Pferd richtig, macht es das Pferd auch richtig“, ist auch Manuela Barosch vom „Reit+Therapiezentrum Donaustadt“ im 22. Wiener Gemeindebezirk überzeugt. Artgerecht gehaltene Pferde zeigen ihre Stimmung mittels Körpersprache. Sie motivieren ihr Gegenüber, entsprechend zu reagieren, und trainieren so das Einfühlungsvermögen der Patienten. Denn: „Heftige Bewegungen machen alle Tiere scheu. Im Grunde ist es das Gleiche, wie du an ein Pferd herangehst und sein Zutrauen gewinnst und wie du an einen Menschen dich wendest und ihn eroberst“, schrieb schon Christian Morgenstern. Nicht nur die Erlebensfähigkeit und Fantasie der Patienten werden angeregt, das Zusammensein mit Tieren sorgt auch für körperliche Entspannung. Nachgewiesen wurden vor allem positive Auswirkungen auf Blutdruck und Kreislauf.

 

In der Gangart Schritt überträgt das Pferd etwa 110 dreidimensionale Schwingungsimpulse pro Minute auf den Rumpf des Reitenden. Es balanciert den Patienten aus, um ihn in seinen Rhythmus einzubinden. Es kommt zu einem „Gleichgewichtsdialog“, der eine Kommunikation zwischen Pferd, Patient, Pferdeführer und Therapeut ermöglicht – mental und körperlich. Ausgewählt wird das Therapiepferd nach Schrittfrequenz und -maß, Größe, Umfang des Pferderückens und Charakter.

 

Das frühzeitige Erkennen von Entwicklungsverzögerungen hilft, geeignete Maßnahmen zur Förderung zu ergreifen. Eine davon ist das heilpädagogische Reiten, das Kinder als ganzheitliche Therapieform in ihrer Entwicklung unterstützt. In der Reittherapie steht die Mensch-Tier-Beziehung im Vordergrund. Die Klienten lernen das Pferd in seinem natürlichen Umfeld kennen. Alle Aktivitäten, die das Pferd betreffen (Futter herrichten, füttern, grasen lassen, pflegen, satteln und aufgurten, Stall ausmisten und mehr) werden – sofern körperlich möglich – in die Therapie einbezogen. Die Art der Grunderkrankung bestimmt, welche Aspekte im Umgang mit dem Pferd in den therapeutischen Rahmen eingebettet werden.

 

Das Dell‘mour-Vogelhub-Team in St. Ulrich/Steyr bietet Behindertensportreiten (Wartezeit auf einen Platz: ca. ein Jahr) sowie Heilpädagogisches Reiten/Voltigieren (etwa zwei Monate Wartezeit). Die Integrative Voltigier- und Reitpädagogik arbeitet mit den persönlichkeitsbildenden Aspekten der Mensch-Pferd-Beziehung. Heilpädagogisches Voltigieren/Reiten (HPVR) fasst pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und soziointegrative Angebote für Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen oder Störungen zusammen. Indikationen sind etwa Verhaltensauffälligkeiten, geistige und Sinnes-Behinderungen, Teilleistungs- und Lernschwächen, Wahrnehmungs- und Sprachstörungen, Burn-out-Symptome sowie Probleme im emotionalen und sozialen Bereich. Distanzlosigkeit, Ängstlichkeit, Antriebsarmut, verminderte Frustrationstoleranz oder Hyperaktivität können durch die emotionale Kontaktaufnahme zum Tier, gezielte Übungen und die Gruppendynamik positiv beeinflusst werden. „Die Krankenkasse übernimmt die Kosten der Therapie nicht, jedoch wird vom Land Oberösterreich ein Zuschuss gewährt. Allerdings nur, wenn HPVR vom Hausarzt verschrieben wird und der Therapeut – so wie unsere Therapeutin – vom Land anerkannt ist. Dann können bis zu 50 Prozent der Therapiekosten rückerstattet werden“, erklärt Platzer. Alle drei Bereiche des therapeutischen Reitens (Hippotherapie, Heilpädagogisches Reiten/Voltigieren und Behindertenreiten) umfasst das Angebot des „Reit+Therapiezentrums Donaustadt“. Wöchentlich werden derzeit etwa 200 Patienten betreut – „und zwar vom Baby bis zum Pensionisten“, betont Manuela Barosch. „Obwohl Pferde die Kraft hätten davonzulaufen, tragen uns diese großen, schönen Tiere. Das weiche Fell und die Schaukelbewegungen wie im Mutterleib vermitteln Geborgenheit. Und die Kinder genießen es, auch einmal größer als die Erwachsenen zu sein.“

 

Erst seit wenigen Jahrzehnten werden Tiere gezielt als Co-Therapeuten eingesetzt. Den Anstoß gab der Erfahrungsbericht des Kinderpsychotherapeuten Boris M. Levinson, der in den 1960er-Jahren die positive Wirkung von Tieren auf Kinder beobachtete. Seine Prämisse: „Ein Tier kann dem Kind dabei helfen, die Aufgaben des Großwerdens zu meistern“, gilt auch heute noch. Levinson stellte fest, dass die Ansprechbarkeit von Kindern in der Gegenwart von Tieren stieg. Fortan zog er Tiere in sein Behandlungskonzept ein. Seit Ende der 1970er wird auf dem Gebiet der tiergestützten Therapie geforscht.

 

 

Die Autorin: Nicole Makarewicz arbeitet seit 1994 als Journalistin u.a. für KURIER-Freizeit, moments, Falter, Jugend in Wien, Echo. Sie ist Mutter einer leiblichen und einer Adoptivtocher und hat auch als Literatin Erzählungen und einen Roman veröffentlicht.

www.nicolemakarewicz.com

 

 

 

"Nicht im Therapieraum, sondern in der Natur"

 

Anwendungsgebiete und Auswirkungen der tiergestützten Behandlung sind so unterschiedlich wie die Patienten, die auf diese Behandlung vertrauen, erklärt Hippotherapeutin Randa Hodum-Elsayed Ali im Interview.

 

lebensweise: Was ist Hippotherapie?

Randa Hodum-Elsayed Ali: Unter Hippotherapie versteht man den medizinischen Einsatz von Pferden zur Ergänzung und Erweiterung der klassischen Physiotherapie bei neurologischen Erkrankungen. Sie wird vom Arzt verordnet und von einem qualifizierten Physiotherapeuten durchgeführt. Auch orthopädische Indikationen wie juveniles Rheuma, Skoliosen oder andere Wirbelsäulenprobleme können behandelt werden. Allerdings werden die Kosten der Hippotherapie von den Krankenkassen nur für neurologische Erkrankungen teilweise rückerstattet.

 

lebensweise: Welche Indikationen gibt es?

Hodum-Elsayed Ali: Die Hauptindikationen für Hippotherapie sind neurologische Erkrankungen – etwa Schlaganfall, spastische Paresen, Querschnittlähmungen, Spina Bifida, Schädel-Hirn-Trauma, Multiple Sklerose, Ataxien oder Muskeldystrophien.

 

lebensweise: Gibt es Kontraindikationen?

Hodum-Elsayed Ali: Neben klassischen Kontraindikationen unter anderem alle virulenten Erkrankungen, akute Bandscheibenprobleme, fixierte Skoliosen, Osteoporosen, Dekubitus, Allergien, Ventrale Hüftluxationen, Schmerzen. Außerdem gibt es auch nicht zu unterschätzende soziale Komponenten wie Gewicht und Überforderung.

 

lebensweise: Was ist der Unterschied der modernen Hippotherapie zur traditionellen Reittherapie?

Hodum-Elsayed Ali: Einer der größten Unterschiede ist die Zeit. Die Reittherapie dauert pro Einheit fast 60 Minuten und beinhaltet mehr soziale Aspekte. Außerdem ist viel mehr Mobilität notwendig als in der Hippotherapie. Das Pferd wird vor dem Reiten geputzt, gesattelt, dann wird geritten oder mit dem Pferd vom Boden aus gespielt. Nach der Stunde wird das Pferd versorgt und gefüttert. Indikationen der Reittherapie sind unter anderem Schlaganfall, auch im Kindesalter, Multiple Sklerose, Anorexie, spastische Paresen, Muskeldystrophien, Blindheit und Gehörlosigkeit. In der Hippotherapie ist die Zeit begrenzt zwischen 20 und 25 Minuten. Einerseits, weil von den Krankenkassen nicht mehr gezahlt wird, andererseits, weil am Pferd neurologisch so viel passiert, dass der Klient sonst überfordert wäre.

 

lebensweise: Was bewirkt der Umgang mit Pferden?

Hodum-Elsayed Ali: Ein wichtiger Aspekt ist: Raus aus dem Therapieraum, rein in die Natur. Ein zwangloses Umfeld bietet neue Möglichkeiten in der Bewältigung des Handicaps. Das Erlebte kann schrittweise in den Alltag integriert werden. Die Steigerung von Durchhaltevermögen und Belastbarkeit sind weitere positive Effekte. Wichtig ist auch die soziale Komponente: Behinderte und gesunde Menschen treffen im Reitstall auf einander, haben dasselbe Hobby. Das Pferd ermöglicht dem Patienten ein unmittelbares Naturerlebnis, gibt ihm das Gefühl, auf eigenen Beinen durch den Wald zu wandern und Berge zu ersteigen. Für Rollstuhlfahrer ist es ein positives Erlebnis, runtersehen zu können und nicht immer raufschauen zu müssen.

 

lebensweise: Welche Wartezeit auf einen Therapieplatz müssen neue Patienten einrechnen?

Hodum-Elsayed Ali: Die Wartezeit auf einen Platz beträgt bei uns je nach Jahreszeit zwei Wochen bis einen Monat. Im Prinzip haben wir ganzjährig Betrieb, sind aber, da wir keine Halle haben, wetterabhängig. Das Geschlechtsverhältnis ist bei unseren Patienten übrigens ziemlich ausgewogen, was vielleicht auch daran liegt, dass wir einen männlichen Pferdeführer haben – da trauen sich die Männer eher aufs Pferd.

 

 

Zur Person: Randa Hodum-Elsayed Ali kam zur Hippotherapie 1992 als Pferdeführerin. Dann begann ein langer Weg, bis sie schließlich 2003 ihre eigene Hippotherapie anbieten konnte. Sie ist zudem Physiotherapeutin, Heilmasseurin, Schwimmtherapeutin und Reittherapeutin. www.hippotherapie.at

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0