Wenn Du weißt, was Du tust, kannst Du tun, was Du willst

Awareness Through Movement (ATM) heißen die Gruppenstunden, bei denen ein Lehrer Bewegungsanleitungen vorgibt, welche die Schüler individuell und selbständig umsetzen. Foto: Feldenkrais Institut
Awareness Through Movement (ATM) heißen die Gruppenstunden, bei denen ein Lehrer Bewegungsanleitungen vorgibt, welche die Schüler individuell und selbständig umsetzen. Foto: Feldenkrais Institut

 

Vor 25 Jahren verstarb mit Moshé Feldenkrais eine der schillerndsten Persönlichkeiten auf dem Gebiet somatischer Therapien und hinterließ eine Methode, die nicht minder kreativ ist als ihr Entdecker.

Von Felicitas Freise

"Seeing clearly“ lautet der Titel des Kurses, und wer erwartet hat, eine Gruppe von Menschen vorzufinden, die hochkonzentriert Augen-Gymnastik machen, ist erstaunt. Die Teilnehmer rollen langsam auf dem Boden herum und bewegen ihre Arme und Beine wie kleine Kinder, die neugierig ihre Gliedmaßen entdecken. Kursleiter David Webber betrachtet das bunte Treiben vergnügt und ist hochzufrieden mit dem völlig uneinheitlichen Gewimmel von Armen und Beinen. Während der Übung wiederholt er immer wieder: „Folge meinen Anweisungen auf Deine Weise, es gibt kein richtig oder falsch, Du kannst keinen Fehler machen. Mach nur so viel wie sich angenehm anfühlt. Wenn Du rasten willst, dann raste. Die Ruhe ist genauso wichtig wie die Bewegung, denn sie gibt Deinem Gehirn die Möglichkeit, die Eindrücke zu verarbeiten, die es durch Deine kleinen Bewegungen bekommen hat. Erlaube Dir die Leichtigkeit. Wenn Du Dich anstrengst, wirst Du es nicht besser machen. Mach noch weniger und spüre, wie es sich anfühlt.“

 

Webber fordert auf, linke und rechte Körperhälfte zu vergleichen, Vergleiche von vorher und nachher zu spüren. Und was das Verblüffende ist: Selbst wenn bei einer Übung nur Rumpf und Becken bewegt werden, sind die Augen danach entspannter und der Blick klarer. Aha-Erlebnis reiht sich an Aha-Erlebnis, wie es auch die Landschaftsarchitektin Alice Größinger beschreibt, die seit rund fünf Jahren Feldenkrais Kurse besucht: „Es gibt so viele geniale Momente. Man bemüht sich, eine komplexe Übung zu machen, steht danach auf und fühlt sich völlig anders und staunt: wie hab ich das denn jetzt geschafft? Ich bewundere, dass so kleine Übungen eine so große Wirkung haben können.“ Der Überraschungseffekt war es auch, der David Webber zu Feldenkrais brachte.

 

Er erkrankte an einer entzündlichen Augenkrankheit und war innerhalb eines Jahres nahezu blind. „Ich befand mich fünf Jahre lang in einer ständigen Krise und probierte verschiedene Dinge aus, von denen ich hoffte, dass sie mir helfen würden. Ich wusste, der Schlüssel lag darin, eine Möglichkeit zu finden, meine Augen zu entspannen. Durch Zufall kam ich zu Feldenkrais und dachte mir: Wenn ich am Boden herumkugel und das gut mache, ist das zumindest das Beste, was ich aus meiner Situation machen kann. Ich entdeckte ebenso zufällig eine Lektion von ihm, bei der es um die Koordination von Augen und Körper geht, und ich merkte, dass seine Vorschläge etwas bei mir veränderten. Und alles, was in meiner Situation eine Veränderung herbeiführte, war gut.“

 

David Webber experimentierte weiter mit der Feldenkrais Methode und merkte, wir sehen nicht mit unseren Augen, sondern mit unserem Gehirn: „Es geht nicht um großartige Bewegungen, sondern darum, uns der neurologischen Abläufe in unserem Gehirn klarzuwerden, damit wir wieder auf die Weise sehen können, wie damals, als wir Kinder waren. Wir müssen erneut Sehen lernen.“ Und genau dieser Weg, die Welt wieder wie ein Kind wahrzunehmen, sich wie ein Kind zu bewegen und zu verhalten, führt einen mitten hinein in die Feldenkrais Methode.

 

„Was Feldenkrais ist, kann man vielleicht besser dadurch beschreiben, was Feldenkrais mit einem macht. Die meisten Menschen, die mit Felden-krais beginnen, haben ein körperliches Anliegen. Sie möchten wieder mehr Stabilität, Flexibilität oder einen größeren Bewegungsradius gewinnen“, erklärt der Tänzer und Feldenkrais Lehrer Sascha Krausneker vom Feldenkrais Institut Wien. Primär steht in einer Feldenkrais Stunde das Bewegungsthema im Vordergrund. Der israelische Physiker hatte in den 1940er Jahren, bedingt durch seine eigenen Knieschmerzen, begonnen, zu erforschen, wie Knochen, Gelenke und Muskeln entsprechend mechanischen Prinzipien am besten beansprucht werden können. Er fand heraus, dass eine optimale Bewegung, die ebenso geschmeidig wie effizient ist, jeden Körperteil mit einbezieht und Muskeltätigkeit sowie Tonus gleichmäßig auf die gesamte Muskulatur verteilt.

 

Auch ist die Geschwindigkeit der Körperteile dabei gleichmäßig, ohne Beschleunigung oder Abbremsung. Zugleich merkte er, dass eine Bewegung nie für sich alleine existiert, sondern immer in Zusammenhang mit Sinneswahrnehmung, Denken und Gefühlen steht. Erst der Wunsch, einen Gegenstand erreichen zu wollen, lässt einen beispielseise den Arm danach ausstrecken. Sascha Krausneker: „Muskeln und Knochen für sich allein sind dumm, die Bewegung findet im Kopf statt. Das Gehirn organisiert die Bewegung. Selbst wenn bei jemandem wie etwa einem Profitänzer die Beweglichkeit perfekt ist, gibt es häufig dennoch Unklarheiten. Es fehlt ihm ein klares Verständnis, was bei der Bewegungsorganisation im Gehirn passiert. Und damit fehlt ihm ein enormes Potenzial. Verändert er seine Bewegungsorganisation, entstehen Freiheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit. Und wenn der Mensch sich selbst besser wahrnimmt und spürt, verändert sich dadurch auch sein Selbstbild.“

 

Das Selbstbild ist ein weiterer zentraler Begriff der Methode. In seinem Werk „Bewusstheit durch Bewegung“ postuliert Moshé Feldenkrais: „Wir handeln dem Bild nach, das wir uns von uns machen.“ Das Selbstbild beruht auf den Erfahrungen, dem Wissen und den Vorstellungen, die man mit dem eigenen Körper verbindet, und man plant und koordiniert sämtliche Aktivitäten in Abstimmung mit ihm. Daher sind Bewegung und Selbstbild nichts als zwei Seiten einer Medaille. Awareness Through Movement (so auch der Name von Feldenkrais Klassen) heißt Bewusstheit durch Bewegung. Durch sie kann das Selbstbild verbessert werden – nicht umgekehrt, wie es Feldenkrais wichtig war zu betonen. Indem Bewegungen verändert oder komplettiert werden, wird das Selbstbild verändert oder komplettiert. Durch Optimieren von Bewegungsmustern, wird im Endeffekt das Leben optimiert.

 

Zunächst einmal das Lernen lernen

Das klingt kompliziert in der Theorie und geschieht auf verblüffende Weise in der Praxis. Aufgrund seiner eigenen Schmerzen entwickelte Moshé Feldenkrais Bewegungslösungen. Als er diese seinem Umfeld vermitteln wollte, scheiterte er und merkte, Bewusstsein ist nicht vermittelbar. So stellte er sich die Frage, wie lernt der Mensch? Wie lernt er Bewegungen und wie entsteht sein Selbstbild? Und er entdeckte, dass er andere Menschen durch einen ähnlichen Prozess schicken musste, wie den, den er bei seiner Entwicklung neuer Bewegungsmuster selbst durchlaufen hatte, damit sie ähnliche Erfahrungen machen. Feldenkrais: „Ich bin kein Lehrer, ich bin nur da, um Bedingungen zu schaffen, unter denen wir am besten lernen können.“ Daher stellt der „Lehrer“ Aufgaben, aber gibt kein richtig oder falsch vor, sondern lässt eine Vielzahl von Möglichkeiten zu. Der Schüler verlässt sich auf seine eigene sensorische Erfahrung und findet die Lösung, die für seinen persönlichen Entwicklungsprozess angemessen ist. Der Autor Roger Russel über eine Feldenkrais Stunde: „Es ist unmöglich, die Integrität des Lernprozesses zu gewährleisten, wenn sein Maßstab das Durchschnittsverhalten ist. Deswegen ermutigt der Lehrer dazu, individuelle Lösungen zu den im Unterricht gestellten Aufgaben zu finden. Dies kann zu der komischen und paradoxen Situation führen, dass die Schüler unterschiedliche Dinge tun, während der Lehrer zufrieden ist, weil sie seinen Anweisungen folgen.“ Und Alice Größinger ergänzt: „Dabei sieht man auch, dass es immer verschiedene Arten gibt, wie man sich bewegen kann. Auch das finde ich faszinierend. Denn wenn man eine Bewegung dann auf eine andere Weise probiert, merkt man, dass auch diese Art etwas für sich hat. Feldenkrais eröffnet einem immer neue Möglichkeiten.“

 

Eine neurobiologische Fragestellung

Das ist der spielerische Aspekt bei Feldenkrais. Der andere, neurobiologische Ansatz ist die anschließende Fragestellung: Was passiert dabei im Gehirn? Sascha Krausneker: „Mit seinen Thesen war Moshé Feldenkrais Pionier auf seinem Gebiet, denn er erkannte, dass das Gehirn zeitlebens lernfähig ist und sich immer neue Verbindungen bilden können, wenn es angeregt wird.“ Eine Tatsache, die von den Neurobiologen mittlerweile bewiesen wurde. Nachzulesen unter anderem im Bestseller „Neustart im Kopf“ des amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers Norman Doidge, der beschreibt, wie sich das Gehirn bis ins hohe Alter selbst neu organisiert beziehungsweise organisieren lässt. Was also ist Feldenkrais? Eine somatische Lernmethode? Ein pädagogischer oder neurobiologischer Ansatz ? Anna Triebel-Thome, Professorin für Bewegungs- und Bewusstheitsbildung an der Berliner Universität der Künste: „Die Methode ist ja nicht genial, weil er wunderbare neue Bewegungen entwickelt hat. Es ist nicht das Was, sondern das Wie. Ob Sie denken: Ich lockere meine Rückenmuskulatur, damit ich meinen Job besser machen kann, oder ob Sie dabei in eine Situation gehen, wo Sie der Erforscher Ihrer eigenen Möglichkeiten sind – das macht den Unterschied. Das eine ist Feldenkrais, das andere ist Gymnastik.“

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